An meine europäischen Freunde: Vor 3 Jahren, als ich noch selbst in Moskau gelebt habe, war meine Einstellung zu Putin noch relativ neutral bis positiv. Vor allem seit dem letzten Jahr bin ich (und auch viele meiner russischen Freunde) aber deutlich stärker gegen den Diktator. Warum? In erster Linie, weil er sich selbst verändert hat. Repressionen gegen Unschuldige gab es auch vor 3 Jahren, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Korruption,Misswirtschaft und Willkür gab es, aber ebenfalls nicht in diesem Ausmaß. Den Ukrainekrieg gab es, aber ich hätte noch auf einen Lösung gehofft (dass dort tatsächlich reguläre russische Soldaten kämpfen weiß ich übrigens aus erster Hand). Die Situation hat sich aber in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Was ich an der russischen Denkweise sehr schätze und bei den realitätsfernen Europäern sehr vermisse, ist die Einstellung, dass autoritäre Stabilität gegenüber Chaos und Konflikt das geringe Übel darstellt. Vor allem nach den traumatisierenden Erlebnissen der 90-Jahre war Putin für die meisten ein - freilich imperfekter - Garant der Stabilität. Das sah ich trotz aller Kritik insbesondere an seiner fehlenden Wirtschaftskompetenz auch so. Heute ist er die größte Gefahr für die Stabilität, da er durch seine willkürliche und dilettantische Politik die Gesellschaft spaltet und jegliches übriggebliebene Vertrauen in den Staat und dessen Institutionen zerstört. Eine radikalisierte, wütende Gesellschaft ist der ideale Nährboden für sehr große Probleme. Nawalny hielt ich früher für einen für die Zivilgesellschaft wichtigen, aber auch etwas opportunistischen Meinungsmacher. Heute halte ich ihn für einen Helden. Natürlich ist er aus europäischer Perspektive sehr rechts und nationalistisch, in Russland befindet er sich aber eher in der Mitte des politischen Kompasses. Leider sind aber nicht alle Oppositionelle politisch gemäßigt. Der Großteil der nennenswerten Opposition ist ein Mischmasch aus Extremismus jeglicher Couleur und daher keinesfalls eine attraktive Alternative. Ich würde mir über die nächsten Jahrzehnte einen sanften Übergang zu einer gemäßigteren Politik wünschen. Es gibt durchaus einige gute technokratische Köpfe in der Regierung (zb Premier Mischustin). Vielleicht können die auf einen zunehmend senilen Putin einwirken. Mehr "Demokratie" wäre keinesfalls die richtige Lösung, da dies wieder nur Rechts- und Linksextremisten stärken würde. Was Russland fehlt ist nicht Demokratie, sondern Rechtsstaatlichkeit. Auch wenn die Alternativen nicht gut sind: unter diesen Umständen kann man Putin nicht mehr rechtfertigen. Ich hoffe aber, dass der in diesen Jahrzehnten stattfindende Niedergang des größten und besten Landes der Welt nichts weiter als ein kurzes Intermezzo im riesigen Rahmen der Weltgeschichte bleiben wird.

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